KAIRO / CAIRO

Mit einer magmatischen Menschenmasse aus der berstenden U-Bahnstation in einen Autostrom gepumpt, Kanal voller Klamottenbuden, Fast-Food-Ketten, Fake-Marken »abibas« und »Deisel«. Betende Männer zum Muezzinbeat aus knarzenden Lautsprechern, Sockenhändler fliehen vor noch nicht geschmierten Polizisten. Ein vernagelter Eckladen, nervöse Jugendliche vor Bierregalen, eine Dosenkathedrale, Schnapsfantasien: »Johnny Waker«, »Jimmy Bean«.

Kairo, explosionsartig wachsende Metropole, ist eine in-, über- und gegeneinander gewachsenen Bricolage 1000-jähriger Bau- und Kulturgeschichte. Eine Collage aus Reportagen von Marcel Raabe und Filzstiftzeichnungen von Franziska Junge am Vorabend des »Arabischen Frühlings«.

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Kairo. Archive des Urbanen. Leipzig 2015
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ARCHIVE DES URBANEN

Ägypten vor Beginn des »Arabischen Frühlings«: Kairo ist eine explosionsartig wachsende Millionenmetropole. Ein Großteil der Stadt besteht aus informellen Siedlungen – weitgehend planlos wuchernden Arealen hoher Bevölkerungskonzentration. Das Land steht vor gigantischen Herausforderungen, und was man noch nicht weiß: am Vorabend tiefgreifender Veränderungen.

KAIRO/CAIRO ist ein gemeinsames Buchprojekt von Marcel Raabe und der Zeichnerin Franziska Junge. In ihrer Collage aus Reportagetexten und 54 farbigen Filzstiftzeichnungen experimentieren sie mit alternativen journalistischen Aufzeichnungsmethoden und begeben sich auf die Suche nach den städtebaulichen, sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen die revolutionäre Stimmung gewachsen ist. Wie gestaltet sich jugendliches Leben zwischen Popkultur und religiösen Traditionen? Wie schlagen sich die Lebensbedingungen einer tief gespaltenen Klassengesellschaft in der Stadtstruktur nieder? Wie steht es mit dem Geschlechterverhältnis?

Kolonialgeschichte, das enorme Bevölkerungswachstum und die Klassengrenzen haben sich deutlich eingeschrieben in diese Schwellenland-Metropole, in der – niemand weiß es genau – 15 bis 22 Millionen Menschen leben. Dadurch ist die Stadt auch ein gewaltiges Museum der Urbanität – eine in-, über- und gegeneinander gewachsenen Bricolage 1000-jähriger Bau- und Kulturgeschichte. Aber wie lässt sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Ägypten eine neue Darstellungsform finden, die die Beschränktheit des eigenen westlichen Blicks reflektiert, jenseits von Pyramidenkitsch, Revolutionsromantik und den holzschnittartigen Konfliktlinien der Tagesmeldungen?

Reportagezeichnungen verändern den Blick aufgrund ihrer Entstehungsdauer und ermöglichen eine sensorische Berührung mit der zu protokollierenden Realität. Während der Text sich an subjektiven Schreibweisen des New Journalism orientiert, knüpfen die Zeichnungen an dokumentarische Bewegungen wie die der »Urban Sketchers« an. In »Kairo. Archive des Urbanen« stehen sich Bild und Text vis à vis gegenüber und bringen das Stakkato der pulsierenden Stadt in eine Form, die die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse vor der Revolution in einer atmosphärisch dichten Weise abbildet.
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